Im Laufe von 300 Millionen Jahren Evolution hat sich Muttermilch zur idealen Nahrung für Babys Gehirn entwickelt. Wir wirkt Kuhmilch auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns?

«Um ihr Baby zu ernähren, verflüssigen Mütter gewissermassen ihren Körper», so Evolutionsbiologin Katie Hinde. Die neuesten Ergebnisse ihrer artübergreifenden Forschung liefern den unbestreitbaren Beleg, dass keine andere Substanz das komplexeste aller Organe, das menschliche Gehirn, so gut mit allen notwendigen Nährstoffen, Hormonen und bioaktiven Inhaltsstoffen versorgt wie die menschliche Muttermilch.
Professor Katie Hinde Medela Symposium 2017

Über 685 000 Mal wurde die zehnminütige TED-Konferenz «What We Don’t Know About Mother’s Milk» von Associate Professor Katie Hinde in knapp vier Wochen angeklickt und regte ein breites Publikum zur Teilnahme am weltweiten Stilldialog an. Wie lässt es sich erklären, dass ausgerechnet die artübergreifende, vergleichende Betrachtung des Stillens die Laktationsforschung revolutioniert und den Diskurs darüber grundlegend verändert?

 

Die Antwort auf diese Frage wurde auf dem 12. Internationalen Still- und Laktationssymposium gegeben: Weil sie die Zusammenhänge erklärt. Ein Vergleich der Muttermilch verschiedener Arten zeigt, dass die individuelle Fortentwicklung jeder einzelnen Art auch direkten Einfluss auf die Entwicklung der artspezifischen Milch nimmt. So enthält die Milch verschiedener Arten auch völlig unterschiedliche Inhaltsstoffe. Dies beweist, dass die Milch jedes Säugetiers in einzigartiger Weise auf die Ernährung des eigenen Nachwuchses abgestimmt ist.

 

«Es ist eine weitverbreitete Annahme, dass die Säugetiere erst nach den Dinosauriern kamen», so Hinde. «In Wahrheit lebten sie jedoch gleichzeitig. Die Trennung der Synapsiden- und der Sauropsiden-Linie ereignete sich vor über 300 Millionen Jahren; aus den Synapsiden entwickelten sich die Säugetiere, aus den Sauropsiden Dinosaurier und Reptilien.»

 

Zu jener Zeit – also lang vor dem Erscheinen der ersten Dinosaurier vor 230 Millionen Jahren – begannen die Säugetiere im Zuge der evolutionären Anpassung, Milch zu bilden. Sie diente dem Schutz und der Versorgung des Säugetiernachwuchses. Säugetiermütter entwickelten die einzigartige und von Hinde so treffend formulierte Fähigkeit, «ihren Körper gewissermassen zu verflüssigen, um ihre Jungen zu ernähren». Da der Körper der Mutter bereits an ihr Lebensumfeld angepasst ist, werden die Ergebnisse dieser Adaptation über den «Verflüssigungsprozess» in Form von Milch an den Nachwuchs weitergegeben, wodurch dieser völlig unabhängig vom verfügbaren Angebot an Nahrung und sauberem Wasser wachsen und gedeihen kann.

 

Die Milch hat sich im Lauf der 300 Millionen Jahre so entwickelt, dass damit sämtliche Organe des Säuglings optimal versorgt werden – so auch das komplexeste Organ: das Gehirn. Dieser evolutionsgeschichtliche Einblick hilft uns zu verstehen, warum nur Muttermilch die frühkindliche Entwicklung des menschlichen Gehirns, welches weiterhin intelligenter ist als jede vom Menschen ersonnene Technik und als das Gehirn des nächstklügsten Tieres, optimal unterstützt. Auch die menschliche Muttermilch weist im Vergleich zur Milch aller anderen Säugetierarten eine beispiellose Komplexität auf.

 

Sie enthält mehrere hunderttausend verschiedene bioaktive Moleküle,[i] die grossteils direkt oder indirekt auf das Gehirn wirken. Aus den langkettigen Fettsäuren in der Muttermilch werden die Myelinscheiden der Nervenzellen gebildet, mit deren Hilfe das Gehirn Informationen schneller und komplexer verarbeiten kann.[ii] Über 400 Proteine[iii] wirken nicht nur als Nahrung, sondern aktivieren auch das Immunsystem und versorgen die Nervenzellen des Gehirns mit schützenden und entwicklungsfördernden Neurotrophinen. Mindestens 200[iv] verschiedene Arten von Oligosacchariden (Präbiotika) stärken das Mikrobiom (Darmflora) und spielen eine entscheidende Rolle beim Aufbau eines lebenslang aktiven Immunsystems. Über die Stärkung des Immunsystems wirken sie entzündlichen Prozessen im Gehirn entgegen und fördern damit indirekt dessen Entwicklung. Den pluripotenten Stammzellen[v] in der Muttermilch wird eine begünstigende Wirkung auf die Entwicklung der Organe und damit auch des Gehirns von Säuglingen zugeschrieben. MicroRNAs sind wirkungsvolle Genregulatoren[vi], welche die gesunde Entwicklung der Zellen fördern, einschliesslich der weissen und grauen Substanz des Cortex und des eindrucksvollen Nervenfasergeflechts, das die verschiedenen Gehirnregionen miteinander vernetzt und die Grundlage der menschlichen Intelligenz bildet.

 

«Unter den 7000 Säugetierarten, von denen knapp 40 Prozent auf Nagetiere und Fledermäuse entfallen, weisen Primaten die komplexeste Lebensführung und Sozialstrukturen auf», so Hinde. «Vor allem der Mensch stellt durch sein Leben die beispiellose Komplexität seines Gehirns unter Beweis. Die Beschaffung von Nahrung ist wichtig, aber auch Rivalitäten und Freundschaften. Wir sind problemlösende, kooperierende, konkurrierende und strategisch denkende Wesen. Unsere Lebensführung ist ausnehmend komplex und basiert auf dem, was wir im Laufe unseres Wachstums und unserer Entwicklung lernen. Das Lernen wiederum wird von der Muttermilch begünstigt, ermöglicht und gestaltet.» Die Leistungsfähigkeit und Komplexität des menschlichen Gehirns und der menschlichen Milch sind in der Natur beispiellos.

 

In ihrer aktuellen Forschung untersucht Hinde, wie einzigartige Hormone in der Muttermilch bestimmen, ob die Milch für die Energieversorgung des Säuglings oder für dessen Gehirn- und Organwachstum verwendet wird. «Jede Kalorie kann nur einmal verbrannt werden. Ob eine Kalorie als Energieträger oder als Gewebebaustein verwendet wird, muss irgendwie bestimmt werden», so Hinde. «Die Hormone in der Milch leiten den Körper bei der Entscheidungsfindung an, wenn Abwägungen zu treffen sind, ob Energie für Entwicklungs- oder für Handlungsprozesse bereitgestellt wird. Dieser Vorgang verläuft bei jeder Art, in jeder Kultur und sogar in Abhängigkeit vom direkten Umfeld der Mutter unterschiedlich. Am komplexesten gestaltet er sich beim Menschen.»

 

Die Wirkung der Milch auf die Gehirnentwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter ist jedoch nicht nur auf die frühe kognitive Entwicklung beschränkt. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass Muttermilch und Stillen die kognitive Entwicklung auch in der nicht immer einfachen Adoleszenz fördern[vii]. Darüber hinaus steuert das Gehirn auch den Körper – im Verlauf des gesamten Lebens. Ein Gehirn, dessen Entwicklung mit der evolutionsoptimierten Milch seiner Art ernährt wurde und sich mit deren Hilfe entwickelt hat, kann den Körper ein Leben lang in idealer Weise anleiten.

 

So schön die von Tarzan inspirierte Vorstellung auch sein mag, dass eine Affenmutter ein menschliches Waisenkind mit ihrer Milch grosszieht – die Muttermilch eines Menschenaffen könnte das Gehirn und den Körper des Menschenbabys in Wirklichkeit nur gerade mit dem absolut Notwendigsten versorgen. Unser gemeinsames Primaten-Erbgut liefert allenfalls rudimentäre Ähnlichkeiten in der Milchzusammensetzung, die sich in vergleichbaren Anteilen an Proteinen, Zucker und Fett niederschlagen. Die fein abgestimmten Bestandteile der menschlichen Muttermilch fehlen in der Milch von Menschenaffen (selbst beim Schimpansen, der von allen Affenarten die grösste Ähnlichkeit mit dem Menschen aufweist). Tarzan konnte also aufgrund der fehlenden, aber für eine gesunde Gehirnentwicklung benötigten menschlichen Muttermilchbestandteile nicht optimal gedeihen – vielleicht mit ein Grund, warum er nicht sprechen konnte?

 

Was ist mit Kuhmilch? Lässt sich von der ständigen und allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Kuhmilch etwa darauf schliessen, dass diese sich für den Verzehr durch den Menschen und dessen Nachwuchs besonders eignen würde? Hinde weiss dazu: «Tatsächlich ist es so, dass der Mensch unter den Säugetieren sogar mit der Ratte mehr gemeinsame Vorfahren als mit dem Rind hat.» Ob sich wohl irgendjemand für Rattenmilch begeistern liesse? Wohl bekomms!

 

Dennoch werden die meisten Ersatzmilchprodukte (Säuglingsnahrung) aus Kuhmilch hergestellt; wenn auch nicht aufgrund ihrer genetischen Kompatibilität, sondern vielmehr durch die weltweite Verfügbarkeit industriell gewonnener Kuhmilch – die Gewinnung ähnlicher Mengen Rattenmilch würde schliesslich einen unvergleichbar grösseren Aufwand darstellen. Da weniger als 40 Prozent der Neugeborenen im entscheidenden ersten Lebenshalbjahr ausschliesslich gestillt werden[viii] bedeutet dies im Umkehrschluss, dass 60 Prozent beziehungsweise jährlich 78 Millionen Neugeborene mit Ersatznahrung ernährt werden. Betrachtet man die genetischen Anforderungen von menschlichen Babys, ist dies jedoch keine artgerechte Ernährung und insbesondere für die Entwicklung des Gehirns suboptimal.

 

Kuhmilch ist keine geeignete Gehirnnahrung für menschliche Säuglinge und bisher ist es der Wissenschaft nicht gelungen, die vielen Tausend Bestandteile der Muttermilch so zu kopieren, dass damit eine der Muttermilch vergleichbare Ersatznahrung hergestellt werden könnte. Hindes Fazit: «Muttermilch ist Nahrung, Medikament und Signalstoff; sie ist die entwicklungsgerechte Erstnahrung für Säuglinge und wir wissen zu wenig darüber, um sie genau nachzubilden.»

 

 

Associate Professor Katie Hinde

Mit ihrem Blog «Mammals Suck … Milk!» verhilft die a. o. Prof. Katie Hinde der Stillforschung bei einer neuen Generation von Eltern, praktizierenden Medizinern und Wissenschaftlern zu ungeahnter Popularität. Neben ihren Aufgaben als Associate Professor am Center for Evolution and Medicine und der School of Human Evolution and Social Change an der Arizona State University leitet sie das Comparative Lactation Laboratory, welches dem California National Primate Research Center angeschlossen ist. Sie diente ausserdem als Exekutivrätin der International Society for Research in Human Milk and Lactation.

 

[i] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3586783/

[ii] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3777218/

[iii] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24452231

[iv] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3983013/

[v] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22865647

[vi] http://www.fasebj.org/content/29/1_Supplement/582.8.short

[vii] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3777218/

[viii] https://www.unicef.org/nutrition/files/Breastfeeding_Avocacy_Initiative_Two_Pager-2015.pdf